19. November 2017

Gedenkrede zum Volkstrauertag

Heute haben wir uns wieder zum alljährlichen Volkstrauertag versammelt, um an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen zu gedenken. Der Volkstrauertag wurde 1919 vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge vorgeschlagen und 1926 zum ersten Mal begangen, jedes Jahr auch bei uns in Osterburg.

Krieg, meine Damen und Herren, ist eine Ausnahmesituation. Vieles, was im Frieden normal ist, scheint hier nicht zu gelten. Die Geschichte ist geprägt von Auseinandersetzungen mit Zehntausenden, Hunderttausenden oder gar Millionen von Toten. Der zweite Weltkrieg hat uns als schlimmster dieser Schrecken bis heute seine hässlichen Narben hinterlassen.


Über 70 Jahre ist es nun her, dass dieser Krieg auf deutschem Boden sein
Ende fand, als das Morden auf den Schlachtfeldern und das Töten in den
Gaskammern aufhörte und die Völker, auch das Deutsche, vom Nationalsozialismus befreit wurden.


Die Wunden aber waren noch lange nicht geheilt. Millionen Menschen befanden sich auf der Flucht, die Wut der Sieger über die Besiegten war noch lange nicht gebändigt. Unser Volk verlor über Jahrzehnte seine staatliche Unabhängigkeit und wurde zum Spielball geopolitischer Großmachtkämpfe. Die Erinnerung aber ist geblieben, an die gefallenen Angehörigen und an die verlorene Heimat. Man kann sich diese Schrecken, dieses Leid gar nicht vorstellen. Ich jedenfalls nicht.

  • 60 Staaten waren am 2. WK beteiligt
  • 110 Mio. Menschen unter Waffen
  • 65 Mio. Tote, davon mehr Zivilisten als Soldaten. Nach der Zahl der Kinderopfer möchte ich gar nicht fragen.
  • 6 Mio. ermordeter Juden im Holocaust, dem systematischen Versuch, ein ganzes Volk zu vernichten
  • Unzählige Verletzte, Gefolterte, Vergewaltigte, Verstümmelte,…
  • Ganze Städte, ganze Landstriche und ganze Länder wurden verwüstet.
  • Millionen Menschen waren Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Umgesiedelte, Vertriebene oder Flüchtlinge.

So etwas hatte die Welt noch nie gesehen und so etwas darf die Welt nie
wiedersehen.


Hätte dieser Krieg verhindert werden können? Über 30 Attentate wurden auf Hitler verübt oder geplant. Alle leider erfolglos, denn jeder einzelne hätte das Leiden verhindert oder verkürzen können.


Was lehrt uns das? Dass es falsch ist, zu warten, bis die Macht und die Schrecken einer Diktatur so unermesslich werden, dass sie nur noch durch einen Tyrannenmord zu beenden sind. Politik und Gesellschaft müssen viel früher erkennen, welch Verderben entstehen kann, wenn nicht rechtzeitig gehandelt wird. Die Demagogie von Hitler und seiner NSDAP hätte man verbieten müssen. Dann wäre er nicht an die Macht gekommen.


"Man hat die Propaganda nicht gesperrt", schrieb Kurt Tucholsky hierzu. So wie wir es auch heute nicht tun. Denn die Kriegsbücher von damals sind die Videospiele und Filme von heute. So wie damals das deutsche Volk verführt und national vergiftet wurde, so werden es heute die Millionen hasserfüllten Kommentare und Falschmeldungen in den sozialen Medien des Internets wieder tun. Wehret den Anfängen. Die Geschichte darf sich nicht wiederholen.

Aber auch die Großmächte seiner Zeit hätten Hitler rechtzeitig in die Knie zwingen können und müssen. Die Annexion Österreichs und der auf der Münchner Konferenz erzwungene Abtritt des Sudetengebiets an Deutschland waren doch Warnung genug. Mit ihrer Appeasement-Politik sind Frankreich und England einer militärischen Konfrontation aus dem Weg gegangen und haben so der weiteren militärischen Aggression des Nazi-Regimes den Weg bereitet. Diese Geschichte muss den Mächtigen der heutigen Zeit doch Mahnung genug sein, gegen kriegslüsterne Diktatoren Geschlossenheit und Entschlossenheit zu zeigen.

Eigentlich sollte dieser schrecklichste aller Kriege für alle Menschen Abschreckung genug sein. Homo Sapiens, wie unser wissenschaftlicher Name lautet, bedeutet der denkende Mensch. Aber würde er denken, über die Konsequenzen manchen Handels nachdenken, dürfte er eigentlich keine Kriege mehr führen.


Er denkt aber nicht, er mordet weiter, vertreibt, zerstört und vergewaltigt. Tagtäglich sehen oder hören wir von den Opfern in den Nachrichten. Beispielhaft nenne ich die Kriege und Konflikte im Jemen, im Nahen Osten, in Afghanistan, den Drogenkrieg auf den Philippinen oder die Vertreibung einer halben Millionen Rohingya aus Myanmar. Bis auf Australien und der Antarktis haben wir derzeit auf allen Kontinenten bewaffnete Konflikte. Seit wenigen Jahren steigen die Opferzahlen wieder rasant an. Derzeit befinden sich weltweit 65 Mio. Menschen auf der Flucht.


Heute ist der Tag, an dem wir all dieser Opfer gedenken. An dem wir uns das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen in Erinnerung rufen. Dies müssen wir immer wieder tun, um zu mahnen, wieviel Schrecken Krieg, Vertreibung und Gewaltherrschaft auslösen können. Wir müssen aber auch mahnen, dass diese Schrecken uns irgendwann selbst wieder erreichen könnten. Denn die mit Gewalt ausgetragenen Konflikte sind längst nicht mehr nur auf entfernten Kontinenten zu finden. Die Kriege kommen näher, wenn ich an die Ukraine denke. Und die Konflikte haben uns mit den Auswirkungen der Flüchtlingskrise längst erreicht.

Als Bürgermeister der Hansestadt Osterburg bin ich Ihnen dankbar, dass ich mich mit dieser Rede an Sie wenden darf. Auch wenn Osterburg im 2. Weltkrieg von größeren Zerstörungen verschont blieb, haben viele Familien Opfer zu beklagen. Ich habe versucht, die Zahl der im Krieg gefallen Soldaten zu ermitteln. Deren Anzahl ist aber leider nicht bekannt. In den Erinnerungen der Familien und Angehörigen sind sie aber geblieben. Auch Ihrer sollten wir heute Gedenken.

Dass Krieg war, spürte man in Osterburg auch daran, dass Kriegsgefangene zum Einsatz kamen. So mussten 22 polnische Gefangene bei der Bahn arbeiten. Auch Franzosen und Jugoslawen mussten bei uns Zwangsarbeit leisten, vorrangig in der Landwirtschaft.


Die 116 jüdischen Zwangsarbeiterinnen, die 1941 im Einsatz auf den Feldern der Spargelbaubetriebe im Landkreis waren, dürfen ebenso nicht vergessen werden. Ihre Unterbringung hatte auf Anordnung des Landrates in geschlossenen Lagern zu erfolgen, sie durften ihren Arbeitsort nicht ohne Genehmigung verlassen und der Besuch öffentlicher Gaststätten oder eines Kinos war ihnen untersagt. Allein 59 von ihnen arbeiteten in Osterburg.

 

Seit 1939 bestimmte zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert der Krieg das öffentliche Leben in Osterburg. Bereits Ende 1940 machte die Zivilbevölkerung dabei völlig neue Erfahrungen. Am 21. November fielen etwa 40 Brandbomben auf die Stadt, wobei die Wohn- und Geschäftshäuser der Familien Herms und Pingel besonders betroffen waren.

Eine große Veränderung war die Bevölkerungszunahme durch Evakuierung und Umsiedlung aus den westlichen Grenzgebieten Deutschlands, wie z. B. aus dem Saarland, später kamen die Ausgebombten aus Hamburg und schließlich noch die Flüchtlinge aus dem Osten, aus Schlesien, Ost- und Westpreußen, Pommern und dem Sudetenland dazu. In den letzten Kriegsjahren lebten in der Stadt fast 10.000 Menschen. Zum Vergleich: Vor dem Krieg lag die Einwohnerzahl bei 5.700.

Die Enge in den Häusern wurde immer größer, denn während des Krieges wurden keine neuen Häuser gebaut und vorhandene nicht erweitert. Es musste zusammengerückt werden, was nicht von jedem Bürger freudig begrüßt wurde.


Wie groß die Not war, lässt sich aus den Sozialakten seiner Zeit entnehmen. So wies der Landrat des Kreises Osterburg am 06.06.1945 an: "Es ist wiederholt vorgekommen, dass einzelne Qartiergeber versuchen, durch Schikanen und Drohungen Umquartierte usw. zu veranlassen, ihre bis dahin innegehabten Quartiere zu verlassen.… Ein solches Verhalten einzelner Quartiergeber ihren vom Schicksal hart betroffenen Volksgenossen gegenüber ist sehr verwerflich und kann nicht geduldet werden."

 

Der Präsident der Provinz Sachsen wies am 12.09.1945 die Landräte und Bürgermeister an, "keinesfalls dürfen Flüchtlinge des Ortes verwiesen werden, weil sie infolge Mittellosigkeit die Entschädigungen für Unterkunft, Verpflegung usw. nicht mehr aufbringen können."


Wie groß der Wunsch nach Rückkehr in die Heimat war, lässt die Bekanntmachung von Osterburgs Bürgermeister Maschke erahnen, als er am 11.07.1945 bekanntgab, "dass entgegen anderslautenden Gerüchten für die Ostflüchtlinge eine Rückkehrmöglichkeit nach dem Osten noch nicht besteht. Ebenso gehen auch nach dem Westen vorläufig noch keine Transporte ab."


Wie wir heute wissen, wird der Wunsch nach Rückkehr in die Heimat nie erfüllt werden. Die Geschichte ließ den Flüchtlingen nichts anderes übrig, als sich an die neue Heimat zu gewöhnen und sich hier eine neue Zukunft aufzubauen. Obwohl sie nicht nur mit offenen Armen empfangen wurden, haben wir als Stadt den vielen Heimatvertriebenen sehr viel zu verdanken. Sie haben sich trotz des schrecklichen persönlichen Schicksals in der neuen Heimat mit sehr viel Fleiß, harter Arbeit und gesellschaftlichem Engagement eingebracht.

 

Dafür möchte ich Ihnen an dieser Stelle einmal Danke sagen. Und als gäbe es kein besseres Zeugnis für Ihr verdienstvolles Wirken in der Nachkriegszeit, ist beispielhaft das Wirken von Walter Baumgart zu benennen. Nach seiner Vertreibung aus Schlesien war er 35 Jahre lang Bürgermeister von Osterburg und wurde schließlich aufgrund seiner Verdienste zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Er hat das Glück, sich trotz seiner 96 Jahre einer robusten Gesundheit zu erfreuen. Vorgestern erst, habe ich ihn im Altersheim besucht. Viele andere Betroffene aber sind nicht mehr unter uns. Und es werden immer weniger, die an diese schreckliche Geschichte erinnern können.


Umso wichtiger ist es, dass wir in Deutschland zum Volkstrauertag an die Toten und das Leid der Überlebenden sowie an den Verlust der Heimat durch Krieg und Vertreibung erinnern. Dies sind wir unseren Kindern schuldig, damit sie solche Gräuel und
Schrecken nie selbst erleben müssen.


Der Wunsch nach Frieden und der Einsicht, dass wir nicht allein unsere Interessen in der Welt in den Vordergrund stellen, sollte im Mittelpunkt stehen. Wir wollen nicht mehr abschrecken, wir wollen Vorbild sein. Vorbild in der Wirtschaftskraft, Vorbild bei den sozialen Errungenschaften sowie Vorbild mit unserer gesellschaftlichen und politischen Landschaft.


Wie weit wir auf diesem Weg bereits gekommen sind, hat Außenminister Sigmar Gabriel auf der Bambi-Verleihung am vergangenen Donnerstag sehr schön umschrieben. "Früher haben wir Furcht in der Welt ausgelöst. Wir waren ein Ort, vor dem sich Menschen fürchteten. Heute ist Deutschland ein Sehnsuchtsort, ein Land der Freiheit, so wie es Amerika am Ende des 19. Jahrhunderts war", so seine Worte.


Und das, meine sehr verehrten Damen und Herren, macht unser Land stark und schützt die Menschen mehr vor Krieg und Vertreibung als es mit Waffen und Grenzzäunen möglich wäre. Lassen Sie uns das Erreichte bewahren und nicht auf dem Schafott des Populismus opfern. Der heutige Tag sollte uns eine Mahnung dafür sein.